Dieser Text von Sascha Liebermann erschien in UTOPIE kreativ, H. 176 (Juni 2005), S. 525-533
Die gegenwärtige Krise
Alle europäischen Nationalstaaten ringen seit Jahren mit demselben Problem, das nach einer Lösung verlangt: der Entwicklung am Ar- beitsmarkt. Die Debatten in den einzelnen Ländern sind – bei allen Unterschieden, die sich aus ihrer Geschichte und Kultur ergeben – so ähnlich wie die Lösungskonzepte, die gepriesen werden. Mit gutem Recht kann deshalb von einer europäischen Krise gesprochen werden, denn die schwierige Lage ist nicht das Ergebnis einer be- stimmten Landespolitik. Vor allem, und das muß hier hervorgehoben werden, ist diese Krise im Kern nicht arbeitsmarktpolitischer, son- dern legitimatorischer Natur. Sie trifft die Staaten in ihrem Selbst- verständnis als Gemeinwesen, denn in allen gilt gleichermaßen: Ein erwünschtes Einkommen erzielt nur, wer einer Erwerbsarbeit nach- geht. Wer daran scheitert, ganz gleich, ob selbstverschuldet oder nicht, versagt darin, eine normative Erwartung seiner Gemeinschaft zu erfüllen. Er versagt darin – und dies ist der Kern der Krise –, seine Verpflichtungen als Bürger zu erfüllen, denn Erwerbsarbeit ist die einzige Einkommensquelle, die als solche von den politischen Ge- meinschaften anerkannt wird. Auf dieses »Versagen« gründen sich alle Maßnahmen, die einen höheren Druck auf Leistungsempfänger vorsehen, so die »Gesetze für moderne Dienstleistungen am Ar- beitsmarkt« in Deutschland, kurz: Hartz-Gesetze. Als Reaktion sind vielerlei Konzepte erdacht worden. Aus Bür- gern wurden »Kunden« der Arbeitsagenturen, die Bürger dadurch zu Konsumenten degradiert. Eine Perfidie, denn: Wer arbeitslos ist, kann nicht wählen, ob er die Leistungen der Bundesagenturen in An- spruch nimmt: Er benötigt ein Einkommen. Diese Krise der Autono- mie des Bürgers ist eine der Integrität, die daher rührt, die normative Erwartung der Gemeinschaft nicht mehr zu erfüllen und auf ein Er- satzeinkommen angewiesen zu sein. Eine objektive Stigmatisierung lastet auf dem einzelnen, von der er sich nicht freimachen kann, es sei denn, er nimmt zu dieser Lage eine zynische Haltung ein. Zynis- mus ist insofern eine Reaktion desjenigen auf die stigmatisierende Wirkung der Sozialleistungen, der der Erwartung der Gemeinschaft nicht nachkommt – ganz gleich, ob selbstverschuldet oder nicht. Die »Hartz-Gesetze« sind also von einem Geist getragen, der die Bürger genau dort verleugnet, wo sie das Fundament des Gemeinwesens sind: als Volkssouverän.